Äußere und innere Natur in Resonanz
Zu Burkhard Niesels künstlerischem Werk
Man möchte beim Malen die Linien großer Natur nicht abzeichnen, sondern aus sich nachziehen. Warum? Damit sie in einen eindringen. Und warum möchte man das? Weil sie da magische Macht entfalten, nämlich Macht, an das Wirkliche zubringen.
aus: Wolfgang Struve, Spuren und Stürze
Z E I C H N U N G
Am Anfang steht die gleißende Helle des weißen Papiers. Im Bildraum der Zeichnung kündet sie von der maximalen Strahlkraft des Lichts. Die Bleistiftspitze, feiner noch als millimeterdünn, legt Schattenspuren. Tastendes Erkunden, entschiedener Vorstoß, Tanz. Das Zusammenspiel der Schattenlinien, die die Bleistiftspitze auf dem Papier hinterlässt, lässt uns Dinge erahnen: Grashalm, Astwerk, Rinde, Blatt.
Freiheiten im Wechsel der Bewegungsrichtung, der Intensitäten, der Rhythmen: die Ausdrucksmöglichkeiten der Bleistiftspitze sind reich – und dennoch stark begrenzt, denn schon die Evokation einer schlichten ebenen Fläche im Halbschatten wird zum Problem, verlangt beinahe endlose Geduld, ungezählte ebenmäßige Schraffurlinien, möglicherweise in mehreren Schichten sich kreuzend übereinander gelegt.
Ein Grasbüschel im Sonnenlicht. Was für eine zeichnerische Herausforderung! All die fein abgestuften Grautöne der Schattentiefen zwischen den Halmen und Blättern, und die Notwendigkeit des Aussparens der feinen.
Wer sich, wie Burkhard Niesel, über Jahrzehnte hinweg der passionierten zeichnerischen Auseinandersetzung mit Naturgegenständen, mit Pflanzen, Bäumen, Landschaften, stellt, sagt ja zu einer spirituellen Übung.
Die Natur stellt die höchsten Herausforderungen an die nachgestaltenden künstlerischen Fertigkeiten, denn sie verweigert sich den Abstraktionen und symbolischen Formen, die der menschliche Geist zur schnellen Verständigung über das, was uns zuhanden ist, geschaffen hat: die mit dem Lineal gezogene Linie, das Drei- und Viereck, der Kreis; drei sich in einem Punkt treffende gerade Linien simulieren einen Raum.
Gerade im Widerstand gegen solche zeichenhaften Vereinfachungen behauptet sich die Anmut, die Schönheit, die Freiheit, die Lebendigkeit der gestalterischen Phantasie der Natur, und ihre Formenvielfalt bleibt stets dynamisch: dem Wechsel der Lichtsituationen ausgesetzt, dem Wetter, dem Widerspiel der in ihr wirkenden Kräfte.
Schon die Braunalge in der Zeichenschachtel verzettelt sich fast im übermütigen Einfallsreichtum ihrer Formensprache und bleibt dabei doch vollkommen eins mit sich. In ihrem stummen Tanz erzählt sie vom hingebungsvollen Schweben in den Meereswogen, aber auch vom Dörren in der Sonne und vom Prickeln des Salzes auf ihrer Haut.
Wer mit Burkhard Niesel zusammen zeichnet, lernt, dass die letzten Handgriffe an einer Zeichnung den weichsten Bleistiftminen vorbehalten sind, den kräftigsten Schatten. Und dass es wichtig sein kann, im richtigen Moment aufzuhören und der gleißenden Helle des Papiers Räume zu reservieren. Hier, im Ungestalteten, wird das Imaginäre des Betrachters von sich aus schöpferisch, findet sein Auge aber auch momentan Ruhe und kann in weiteren Anläufen an verschiedenen Stellen Schattenspuren folgen, um den gestalteten Bildraum neu auszuschreiten.
M A L E R E I
Mit seiner Ölmalerei widmet sich Burkhard Niesel ebenso entschieden der Landschaft und der Auseinandersetzung mit den Seinsqualitäten der Natur, seine handwerkliche Vorgehensweise ist aber gegenläufig. Die weiße Fläche der Leinwand wird in einem pastelligen hellen Braunton grundiert und ihre Strahlkraft dadurch gebrochen. Dann werden auf der Malfläche als Erstes entschieden die dunkelsten Schatten des Bildmotivs verankert und der Bildaufbau so vorstrukturiert. Erst ganz am Ende des gesamten Malprozesses werden die Lichtpunkte gesetzt, die Oberflächen mit der höchsten Intensität der Lichteinstrahlung herausgearbeitet.
Während Burkhards zeichnerische Miniaturen in der Regel in der freien Natur entstehen, schafft er seine monumentalen Tafelbilder (das „Wattenmeer“ etwa misst 250 cm x 150 cm) zwangsläufig im Atelier. Hier nutzt er zur Orientierung Fotografien des Bildmotivs, aber natürlich gehen auch die Erfahrungen der vorgängigen zeichnerischen Auseinandersetzung mit der jeweiligen Landschaft zusammen mit der gewachsenen sinnlich-emotionalen Verbindung zu ihr – in den Malprozess mit ein.
Die Begegnung mit Burkhard Niesels riesigen Tafelbildern überwältigt. Sie wollen nicht mit einem einzigen Blick erfasst sein. Sie imponieren uns körperlich. Burkhard legt es darauf an, mit seinen Ölbildern die Weite der Landschaft in mengen-geschaffene Innenräume zu holen. Als Betrachter spürt man diese Weite dann am eigenen Leib. Das hat neben dem Bildformat auch damit zu tun, dass Burkhard die Horizontlinie möglichst weit an den oberen Bildrand verlegt oder sie überhaupt ganz „verstellt“. Wasserflächen und die Erdoberfläche mit ihrer Vegetation und ihrer geologischen Beschaffenheit sind der zentrale Bildgegenstand. Sie binden die Aufmerksamkeit des Betrachters, ja, sie scheinen ihn ganz und gar schlucken zu wollen. Der Himmel bleibt dagegen stets nebensächlich und ist etwa in den mächtigen Salzwiesen- oder Wattenmeer-Bildern farblich so neutralisiert bzw. dem Farbton des Meeres angenähert, dass er mehr wie dessen Fortsetzung in eine unendliche Tiefe wirkt, als dass er sich als eigenes Bildsujet aufdrängt.
Überhaupt scheint es Burkhard Niesel grundsätzlich lieber zu sein, den Himmel – wenn überhaupt – so darzustellen, wie das Wasser ihn sieht. Ich vermute, dass das wechselvolle Schauspiel, mit dem der Himmel es tagtäglich darauf anlegt, unsere Aufmerksamkeit zu binden, ihm suspekt ist. Burkhard Niesel arbeitet anders als die Impressionisten, die den Augenblick feierten und in ein und derselben Landschaft die ständig wechselnden Lichtstimmungen geistesgegenwärtig seriell zu bannen versuchten, mit teils fiebriger Pinselschrift und den dynamischen Kontrastwirkungen reiner Farben. Nein, seine Farben sind zu Ende gemischt und seine Palette verweigert sich harten Kontrasten; seine Pinselschrift bleibt stets kontrolliert, und meidet jeden Anflug künstlerischer Egozentrik. Die dargestellten Szenerien sind auch so gewählt, dass harte Schatten vermieden werden und dass ein silbriges Licht und eher gedeckte (und doch in sehr subtilen Bereichen zwischen warm und kalt changierende) Farben vorherrschen: Ich habe den Eindruck, Burkhard Niesel sucht in seinen Naturdarstellungen entschieden das Wesenhafte, nicht das Episodische.
Dazu gehört auch, dass seine Landschaften menschenleer sind. Die Natur ist mit sich selbst allein. Gleichwohl ist sie nicht unberührt, sondern zeigt Spuren menschlicher Eingriffe:(Kultur-)Landgewinnung, Befestigung, Entwässerung, Wasserspeicherung, Wegebau, Abgrenzung, Bepflanzung oder Rodung. Und immer ist die Natur in diesen Szenen schon dabei, die menschlichen Spuren wieder zu kassieren, zu verwischen und zu überwuchern.
Damit aber kommt eine andere Art von Zeitlichkeit in den Blick als in den Bildern der Impressionisten. Feiern diese Natur und Landschaft als Quellen augenblickshafter sinnlicher Sensationen, so wendet sich Burkhard ohne vordergründige Effekthascherei der von der Natur verkörperten Gelassenheit zu, ihrem langen Atem, ihrem stoischen Ernst, der Dauer im Wandel.
Wer mit Burkhard Niesels Bildern zusammenlebt, begibt sich also in ein Kraftfeld, das von den Qualitäten der Weite, der Stille und der Gelassenheit geprägt ist. Gewiss findet er in einer überhitzten, beschleunigten Welt so Trost und Zuflucht. Möglicherweise verstricken ihn die Bilder auch in grundsätzliche Fragen zum Verhältnis von Mensch und Natur, in Fragen von existenziellem Ernst oder in Spekulationen darüber, was bleibt, wenn die Menschheit ihr Existenzrecht auf unserem Planeten verwirkt haben wird.
Dießen im Juli 2021.
Dr. Johannes Hauck